Scarlatti im Spanien nach der Glanzzeit des Siglo de oro

Domenico Scarlatti

Als Domenico Scarlatti 1729 im Gefolge der portugiesischen Prinzessin Maria Barbara die spanische Grenze überschritt, war Spaniens Glanzzeit – das Siglo de oro – Geschichte. Cervantes, Lope de Vega, Calderón, Góngora, aber auch El Greco, Murillo oder Velásquez waren seit mehr als fünfzig Jahren tot und spanische Moden und Sitten in Europa längst nicht mehr en vogue.

Spaniens Glanzzeit – das Siglo de oro – ist Geschichte
1588 hatte die englische Flotte die ‚unbesiegbare’ Armada vernichtend geschlagen; Spaniens ausbeuterische Kolonialpolitik war immer mehr zu einer Hypothek geworden, und die Mauren und nicht konvertierten Juden – lange Zeit hatten sie als Handwerker, als Wissenschaftler und Kaufleute für das Gedeihen des Landes eine entscheidende Rolle gespielt – waren vertrieben worden; in Frankreich hatte Spanien nichts mehr zu sagen, und die Niederlande waren abgefallen; die Randgebiete wurden unterdrückt, und die Scheiterhaufen der Inquisition hatten sich ins Gedächtnis eingebrannt. Das Land war keine Weltmacht mehr. Mit dem Tod Karls II. war die habsburgische Linie auf dem spanischen Thron erloschen; seither herrschten die Bourbonen. Als die portugiesischen Prinzessin Maria Barbara und ihr zukünftiger Gemahl, der Thronprinz Ferdinand, im Januar 1729 einander an den Ufern des Caya zum ersten Mal sahen, regierte Philipp V. das Land – oder vielmehr: seine zweite Frau Elisabeth. Denn der König war entscheidungsschwach und krank, depressiv und melancholisch. Elisabeth Farnese, eine Italienerin, hielt die Fäden in der Hand und musste aufpassen, dass der schwermütige Monarch nicht sein Abdankungsschreiben unterzeichnete. Aber es sollte dauern, bis Ferdinand und Maria Barbara die Nachfolge des Königspaars antreten konnten. Erst 1746 bestieg der Infant in Madrid den Thron.

Unstetes Leben am spanischen Hof
Scarlatti musste sich an das unstete Leben am spanischen Hof gewöhnen. Aus klimatischen Gründen, aber auch weil man die Abwechslung suchte, zogen das Königspaar und der ganze Hofstaat von einer Residenz zur anderen. Lebte man von Januar bis Mitte März im alten Jagdschloss von Pardo, hielt man über Ostern Hof in Madrid; von April bis Juni weilte der Regent in Aranjuez und kehrte Ende Juni wieder in den Madrider Buen- Retiro-Palast zurück; vor der Sommersitze flüchtete das Königspaar in die Berge nach La Granja und residierte dann bis Anfang Dezember in der Klosterresidenz El Escorial, um über Weihnachten sich wieder in die Hauptstadt zu begeben. Als ob diese ständigen Wechsel der Residenzen die Reglosigkeit vergessen machen sollten, in der das Land und sein Monarch erstarrt waren: «Spanien vegetiert dahin in Armut, Aberglauben und Unwissenheit. Es scheint, als gehe die Zeit nicht mehr weiter, als stehe sie still.» (Juan Goytisolo)

Madrid - ein unbedeutender Marktflecken
Ein unbedeutender Marktflecken, war Madrid erst 1561 Spaniens Hauptstadt geworden. Die Stadt war für ihre Rückständigkeit berüchtigt. Paläste standen neben elenden Hütten, in den ungepflasterten Gassen lebten Schweine und Ziegen, Schmutz und Gestank waren allgegenwärtig. Hier wie überall im Land sollte die Aufklärung noch lange auf sich warten lassen. Spanien hatte Europa den Rücken gekehrt, gepeinigt von den Gespenstern seiner Vergangenheit: der Verdrängung, der Vernichtung seines jüdisch-arabischen Erbes. In der Hauptstadt hatte Scarlatti 1737 das Glück, einen Bekannten zu treffen, den er von einer gemeinsamen Opernarbeit in Rom her kannte und schätzte: den Sänger Carlo Broschi, der unter dem Künstlernamen Farinelli eine europäische Berühmtheit war. Man hatte ihn an den spanischen Hof gerufen, damit er mit seiner unvergleichlichen Stimme König Philipp aus seiner Lethargie und Erstarrung reisse. Jeden Abend sang Farinelli vor dem schwermütigen König bis zu neun Arien, und sein Gesang zeitigte Wirkung. Der Sänger blieb und wurde am spanischen Hof zu einer bestimmenden Figur.

Scarlatti und Farinelli verbanden freundschaftliche Bande

Freundschaft mit dem Sänger Farinelli
Scarlatti und Farinelli verbanden bald schon freundschaftliche Bande, und der Sänger sorgte dafür, dass die Königin für Scarlattis Spielschulden aufkam und dessen Familie – Scarlatti hatte in Spanien ein zweites Mal geheiratet und war Vater von neun Kindern – nach seinem Tode unterstützte. Ferdinand, der Kronprinz und spätere König, zog die Jagd der Tonkunst vor. Umso hingebungsvoller widmete sich Maria Barbara der Musik. Auch wenn ihre äussere Erscheinung sich auf den ersten Blick wenig vorteilhaft ausnahm – die Herren am Hofe sprachen von ihren Blattern und ihrer Korpulenz –, war sie doch eine überaus einnehmende Persönlichkeit: sanftmütig, geistvoll und grossherzig. Sie sprach sechs Sprachen und war eine Frau von bemerkenswerter Musikalität, die brillant Cembalo spielte, sang und komponierte. Scarlatti pflegte Maria Barbara – und manchmal auch Farinelli, mit dem sie gern duettierte – am Piano oder Cembalo zu begleiten. Was für Klangwolken mögen wohl im Frühjahr über die Gärten und Springbrunnen von Aranjuez gezogen sein? Was wäre in Scarlattis Spiel nicht alles zu hören gewesen? Eine Sopranistin, die immer zu spät kommt? Die Lieder der Strasse und die Landschaften am Ufer des Tejo? Die Prozessionen der Flagellanten und die Scherze der Lastträger? Ein König, der kurz vor Tagesanbruch mit seinem Hofstaat an der Tafel sitzt und das Abendessen auftragen lässt? Die Stein gewordenen Albträume Kastiliens, seine gewaltigen Schlösser und Festungen? Die leichthändige Auflösung des höfischen Zeremoniells? All dies vielleicht; gewiss aber das Lächeln der Musik jenseits der Wörter, der Sätze, der Sprachen.
Hugo Anthamatten

Kehrseite des Siglo de oro: Paläste und Hütten

Paläste und Hütten
Paläste standen neben elenden Hütten, in den ungepflasterten Gassen lebten Schweine und Ziegen, Schmutz und Gestank waren allgegenwärtig. Hier wie überall im Land sollte die Aufklärung noch lange auf sich warten lassen. Spanien hatte Europa den Rücken gekehrt, gepeinigt von den Gespenstern seiner Vergangenheit: der Verdrängung, der Vernichtung seines jüdisch-arabischen Erbes.